Die Stigmatisierung der Unfruchtbarkeit muss aufhören

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  • VERÖFFENTLICHT November 02, 2023
  • AUTOR Donna

Das Wichtigste

  • Unfruchtbarkeit ist definiert als Ausbleiben einer Schwangerschaft nach 12 Monaten regelmäßigen ungeschützten Geschlechtsverkehrs.
  • Unfruchtbarkeit ist ein weibliches und männliches Problem, aber die Last der Unfruchtbarkeit lastet immer noch schwer auf den Frauen+, die das Gefühl haben, dass sie häufiger dafür verantwortlich gemacht werden als Männer.
  • Die Stigmatisierung kann schädliche soziale und psychologische Folgen haben, von Ausgrenzung und Scheidung bis hin zu sozialer Stigmatisierung, die zu Isolation und Stress führt.

Die Stigmatisierung der Unfruchtbarkeit muss aufhören

Die Stigmatisierung der Unfruchtbarkeit ist immer noch ein Thema – und Frauen+ trifft die Hauptlast. Besonders Frauen+ haben oft mit der eigenen Unfruchtbarkeit zu kämpfen – das kann zu Ängsten, Stress und Isolation führen. Aber die öffentliche Meinung und der Diskurs rund um dieses sensible Thema geht in die richtige Richtung. Denn einerseits wächst das allgemeine Bewusstsein für die Auswirkungen des Stigmas und andererseits macht die Fruchtbarkeitsforschung rasche Fortschritte.

„Ich denke immer, dass ich weniger wert bin als andere, weil ich nicht schwanger werden kann. Dieser Gedanke macht mir wirklich zu schaffen“, so beschreibt eine 34-jährige Iranerin ihre Gefühle, sie trägt diese Last bereits ein Jahrzehnt lang. Die junge Frau+ war eine der Teilnehmenden einer iranischen Umfrage aus dem Jahr 2021, in der die Erfahrungen von Frauen+ mit Unfruchtbarkeit innerhalb des Landes erfasst wurden.

Ihre Antwort könnte jedoch auch in jedem anderen Land der Welt zu hören sein. Der Druck, möglichst schnell schwanger zu werden, ist universell und wird vor allem von Frauen+ wahrgenommen. Obwohl Unfruchtbarkeit weit verbreitet ist, wird sie immer noch stark stigmatisiert und führt oft zu Scham und Verschwiegenheit.

Außerdem ist es nach wie vor ein hochsensibles Thema, dessen Auswirkungen erst seit kurzem in öffentlichen Foren und in den sozialen Medien diskutiert werden. Das ist ein gutes Zeichen – wir glauben, dass wir nur durch eine offene, ehrliche und realistische Diskussion in der Lage sind, ein Umfeld für Menschen zu schaffen, die eine eingeschränkte Fruchtbarkeit haben oder gar keine Kinder haben wollen.

Unfruchtbarkeit – Was ist das eigentlich?

Im klinischen Sinne ist Unfruchtbarkeit definiert als das Ausbleiben einer Schwangerschaft für mehr als 12 Monate, trotz regelmäßigem ungeschütztem Geschlechtsverkehr. 1 Im Allgemeinen leiden weltweit 8 bis 12 Prozent aller Paare im fortpflanzungsfähigen Alter an Unfruchtbarkeit. 2 Bei Frauen+ sind mehr als 10 Prozent betroffen. 3

Die meisten weiblichen Fruchtbarkeitsprobleme lassen sich auf körperliche Ursachen zurückführen. Das liegt an der Tatsache, dass Frauen+ mit einer bestimmten Anzahl an Eizellen geboren werden, die mit zunehmendem Alter abnimmt. Die weibliche Fruchtbarkeit verringert sich nach dem 35. Lebensjahr. Aber auch bei Männern im Alter zwischen 40 und 45 Jahren sinkt die Fruchtbarkeit rasant. 4 5 6

Gründe für einen unerfüllten Kinderwunsch sind oftmals Ovulationsstörungen, ein hormonelles Ungleichgewicht und strukturelle Probleme – wie etwa blockierte Eileiter oder Gebärmuttermyome. Auch Endometriose und das polyzystische Ovarialsyndrom können die Fähigkeit, schwanger zu werden, beeinträchtigen. Letzteres ist eine hormonelle Störung. Bei der Endometriose wächst Gewebe, das dem Gewebe der Gebärmutter ähnelt, außerhalb der Gebärmutter. Schließlich beeinflussen auch eine Reihe von Lebensstilfaktoren die Fruchtbarkeit, darunter Rauchen, die Ernährung oder auch regelmäßiger Alkoholkonsum. 7 8 9 Mehr über die Ursachen von Unfruchtbarkeit und die Behandlungsmöglichkeiten erfährst du in unserem Artikel zu dem Thema.

Unfruchtbarkeit trifft Männer+ und Frauen+ gleichermaßen

Unfruchtbarkeit ist ein geschlechterübergreifendes Problem. Etwa 30 Prozent aller Fälle von ungewollter Kinderlosigkeit sind auf weibliche Faktoren zurückzuführen, genauso wie sich 30 Prozent durch männliche Faktoren erklären lassen. Weitere 30 Prozent sind das Ergebnis einer Kombination aus beidem und für die restlichen 10 Prozent sind ungeklärte Gründe verantwortlich. 10

Trotz dieser Fakten lastet der gesellschaftliche Druck der Unfruchtbarkeit besonders schwer auf Frauen+. Sie haben das Gefühl, dass die Verantwortung häufiger bei ihnen als bei Männern gesucht wird. Eine kürzlich durchgeführte Studie ergab, dass 43 % der Frauen+ und 29 % der Männer wahrnehmen, sozial ausgegrenzt zu werden. 11 Eine andere Umfrage ergab, dass 40 % der Frauen+ mit Fruchtbarkeitsproblemen glauben, dass die Gesellschaft weniger von Frauen+ hält, die keine Kinder bekommen können. 45 % glauben, dass Stereotype über Unfruchtbarkeit sie persönlich beeinflusst haben. 12

Unfruchtbarkeit und die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit

Das Stigma der Unfruchtbarkeit kann soziale und psychologische Probleme mit sich bringen. Begonnen bei Ausgrenzung und Scheidung, bis hin zu sozialer Stigmatisierung, die wiederum zu Isolation und erhöhtem Stress führen kann. Auch Schuldgefühlen können bei Frauen+ häufig auftauchen, diese wiederum können sich negativ auf ihr Selbstwertgefühl auswirken. 1314

Betroffene Frauen+ beschreiben Gefühle von Scham und Minderwertigkeit, Wertlosigkeit und Kontrollverlust. Einige haben Angst vor Scheidung und Trennung, das trifft insbesondere auf asiatische und afrikanische Gesellschaften zu. In den schlimmsten Fällen werden Frauen+ verbal gedemütigt und für ihre Situation verantwortlich gemacht. Auch sarkastische Bemerkungen und verletzende Beschreibungen sind typische Beleidigungen, die zum Alltag Betroffener gehören. 15161718

Die Stigmatisierung kann tatsächlich schmerzhafter sein als die Unfruchtbarkeit selbst. In einer Umfrage von Modern Fertility gaben 60 Prozent der Teilnehmerinnen an, dass sie sich wegen ihrer Fruchtbarkeit Sorgen machen. 19 Studien haben sogar gezeigt, dass Frauen+, die schon länger versuchen, schwanger zu werden, genauso stark unter Ängsten und Depressionen leiden, wie Frauen+ mit Krebs, AIDS und Herzkrankheiten. 20

Unfruchtbarkeit wird vor allem in Entwicklungsländern stigmatisiert, in denen das Kinderkriegen eine zentrale Rolle für die Identität der Frau+ spielt. 21 In einigen afrikanischen Ländern steigt beispielsweise bereits kurz nach der Hochzeit der Druck, die eigene Fruchtbarkeit unter Beweis zu stellen. Die Menstruation wird sogar als “schlimme Krankheit” betrachtet. 22

In Kulturen, in denen das Konzept der freiwilligen Kinderlosigkeit nicht existiert, ist es unmöglich, Unfruchtbarkeit zu verbergen. Frauen+ werden psychisch und physisch schikaniert und bekommen die gesamte Schuld zugeschrieben, wenn Kinder ausbleiben. 23

Offen mit Unfruchtbarkeit umgehen

Betroffene reagieren unterschiedlich auf die Stigmatisierung. Einige greifen auf Abwehrmechanismen zurück – sie halten die Fassade aufrecht und verstecken ihre Unfruchtbarkeit. Am Ende stehen sie völlig allein mit dem Problem da, was wiederum Stress und Sorgen verursachen kann. Die Angst, dass ihr Geheimnis gelüftet werden könnte, verstärkt die Anspannung und die Schuldgefühle.

Aber es geht auch anders. Trotz des gesellschaftlichen Drucks finden viele Frauen+ Unterstützung durch ihre Partnern, ihre Familie, insbesondere bei ihren eigenen Müttern, und in Gruppen mit anderen Frauen+, die auch mit Unfruchtbarkeit zu kämpfen haben. Tatsächlich spielt die Unterstützung durch Gleichaltrige eine entscheidende Rolle im therapeutischen Umfeld, da die offizielle Behandlung um eine psychisch gesunde Perspektive ergänzt wird. Wenn Frauen+ sich gegenseitig unterstützen, sind sie Teil einer Gemeinschaft, die ihnen das Stigma und die Einsamkeit der Unfruchtbarkeit nehmen kann. Gesundheitsexperten raten Frauen+, die Probleme haben, schwanger zu werden, mit Familie und Freunden darüber zu sprechen und sich nicht zu isolieren. Gleichzeitig ist es ebenso wichtig, auf sich selbst acht zu geben, genügend zu schlafen, Sport zu treiben und sich Zeit für sich alleine zu nehmen. 2425

Außerdem sind Informationen heute viel leichter zugänglich. Das Internet ermöglicht den Zugang zu verschiedenstem Wissen über die Ursachen von Unfruchtbarkeit und Behandlungsmöglichkeiten. Frauen+ sagen selbst, dass sie sich mehr Aufklärung wünschen – über die Faktoren, die ihre Fruchtbarkeit beeinträchtigen können und über die Auswirkungen ihrer Hormone. 26

Gleichzeitig werden viele Frauen+ ermutigt und motiviert, wenn Influencer und Prominente mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit gehen. Michelle Obama zum Beispiel hat offen über ihre Fehlgeburt gesprochen. Sie erklärte, dass sie sich wie eine Versagerin fühlte, weil ihr nicht bewusst war, wie häufig Fehlgeburten tatsächlich sind. Wie so viele andere Frauen+ auch, hatte sie das Gefühl, defekt zu sein. Michelle Obama und ihr Ehemann, der ehemalige Präsident der USA Barack Obama, bekamen ihre Töchter Sasha und Malia schlussendlich durch eine IVF-Behandlung, als sie Mitte 30 war.

Unfruchtbarkeit behandeln

Unfruchtbarkeit bedeutet nicht, dass der Traum vom Elternsein zu Ende ist. Schwierigkeiten beim Schwangerwerden müssen nicht automatisch bedeuten, dass diese dauerhaft bestehen bleiben. Die meisten Betroffenen, die mit Unfruchtbarkeit zu kämpfen haben, werden am Ende schwanger – in vielen Fällen dank der erstaunlichen Fortschritte in der Fruchtbarkeitstechnologie.

Die Behandlungen reichen von Eisprung auslösenden Medikamenten, über Operationen zur Behebung von Gebärmutterproblemen, bis hin zur intrauterinen Insemination. Möglicherweise wird eine assistierte Reproduktionstechnik notwendig, z. B. IVF, Ei- und Samenspende oder eine Leihmutterschaft. Auch das Einfrieren von Eizellen gibt allen, die sich aus persönlichen Gründen für ein Aufschieben der Elternschaft entscheiden, eine ganz neue Freiheit. 272829 Lerne mehr über diese und andere Optionen in unserem Artikel zum Thema.

Schritt für Schritt in eine verständnisvollere Welt

Der Weg ist noch lange, bevor die Tabus und das Stigma rund um die Unfruchtbarkeit endlich der Vergangenheit angehören werden. Aber jedes Mal, wenn jemand auf die Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten aufmerksam macht, kommen wir einer verständnisvolleren und faireren Welt einen Schritt näher.

FUSSNOTEN

  1. https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/infertility
  2. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32446954/
  3. https://www.who.int/reproductivehealth/topics/infertility/perspective/en/
  4. https://www.betterhealth.vic.gov.au/health/conditionsandtreatments/age-and-fertility
  5. https://www.britishfertilitysociety.org.uk/fei/at-what-age-does-fertility-begin-to-decrease/
  6. https://www.acog.org/Patients/FAQs/Having-a-Baby-After-Age-35-How-Aging-Affects-Fertility-and-Pregnancy?IsMobileSet=false
  7. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fendo.2019.00346/full
  8. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5504800/
  9. https://www.reproductivefacts.org/news-and-publications/patient-fact-sheets-and-booklets/documents/fact-sheets-and-info-booklets/smoking-and-infertility/
  10. https://www.betterhealth.vic.gov.au/health/conditionsandtreatments/infertility-in-women
  11. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5894536/
  12. https://academic.oup.com/humrep/article/27/5/1383/696393
  13. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17580298/
  14. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6016043/
  15. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24069756/
  16. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/22357772/
  17. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26412629/
  18. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6670265/
  19. https://modernfertility.com/modern-state-of-fertility-2019/
  20. https://www.mayoclinichealthsystem.org/hometown-health/speaking-of-health/infertility-and-stress
  21. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3383794/
  22. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26412629/
  23. https://academic.oup.com/humrep/article/27/5/1383/696393
  24. https://womensmentalhealth.org/specialty-clinics/infertility-and-mental-health/
  25. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2405661818300388
  26. https://modernfertility.com/modern-state-of-fertility-2019/
  27. https://www.hfea.gov.uk/treatments/explore-all-treatments/
  28. https://www.mayoclinic.org/diseases-conditions/infertility/diagnosis-treatment/drc-20354322
  29. https://academic.oup.com/humrep/article/27/5/1383/696393
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